See Location
Follow

Die Sámi

Das letzte indigene Volk Europas

Nomadentum und modernste Technik –
kaum ein Alltag zeigt sich uns kontrastreicher als das Leben der halbnomadischen Sámi. Ganz auf die Bedürfnisse des Rentiers ausgerichtet, ziehen sie mit ihren Herden im Lauf der Jahreszeiten durchs Land. Der Tradtion wird ein hoher Stellenwert eingeräumt, doch auch moderne Technik hat Einzug in ihr Tun gehalten: Schneemobile heulen durch die Land­schaft, Tiere werden mit GPS geortet und mit Drohnen, die das Gebell von Hirtenhunden nachahmen, gehütet.

„Die Rentiere zu zählen und zu berichten wieviel man besitzt, ist nicht gut fürs Karma – wir verlieren keine Worte darüber.“

Heute leben rund 100.000 Sámi im Norden Schwedens, Norwegens und Finnlands bis nach Russland verteilt – als eigenständige Bevölkerungsgruppe eingetragen, mit eigener Sprache und sehr auf die Bewahrung ihrer kulturellen Identität bedacht. Wurde ihr Anders­sein früher stigmatisiert, konnten sie ab den 1960er Jahren vermehrt ihre Rechte durch­setzen und wurden als einzige Urvolk Europas anerkannt.

Wachsen mit der Verantwortung
Von Kindesbeinen an sind die Sámi mit Aufgaben und Verantwortung betraut – das fordert die Arbeit mit den Rentieren und die wilde Natur. Jedes Kleinkind hat sein eigenes Messer und lernt früh, damit umzugehen. Es wird als Werkzeug und nicht als Waffe gesehen. „Ohne mein Messer fühle ich mich nackt“, hören wir. Ausschließlich von der Rentierzucht können heute noch rund 15% der Sámi leben – meist gehen die Frauen zusätzlich anderen Berufen nach, während die Männer die Kräfte zehrende Arbeit mit dem Vieh übernehmen. Aber fast alle Sámi sind mit dem Tier verbunden, das ihre Kultur maßgeblich prägt. Der Familienalltag wird rund um die Bedürfnisse der Rentiere organisiert. Wenn sie zwischen Sommer- und Winterlager wechseln, haben die Kinder schulfrei, um das wichtige Ereignis mitzuerleben und zu helfen. Im naturverbundenen Leben der Sámi sieht jede Jahreszeit ganz bestimmte Arbeiten vor.

Zeichen der Zugehörigkeit
Dass es trotz Facebook und Whatsapp so schwierig werden würde, mitten in Europa Kontakte zu knüpfen, hatten wir nicht erwartet als wir in Tromsö ankamen. Man trifft kaum jemanden in der weiten und gleichförmigen Landschaft. Es ist Nebensaison in Finnmark – kaum Schnee, aber schon richtig kalt; ausser uns sind nur wenige Touristen unterwegs und die Sámi selbst sind mit dem Heimtreiben ihrer Herden von den Sommerlagern beschäftigt.

Wir fahren auf ein Hochplateu mit Blick auf das eisige Meer und treffen auf eine Gruppe von Sámi, die soeben die Schlachtung ihrer Rentiere beendet haben. Gastfreundlich ladet uns ein Sámi auf einen Kaffee in seine Hütte ein, wo seine Frau gerade einer daily Soap zum Thema Brustschönheits-OP ansieht. Für mich eine sehr skurril anmutende Szene im Kontrast zu der rauhen, abgeschiedenen Natur.

Über einen unserer Kontakte werden wir eingeladen, das Aufteilen einer Großherde zu verfolgen – es dauert eine Ewigkeit, bis wir den abgelegenen Platz finden, denn Adressen und Wegweiser gibt es hier keine.

Hunderte Tiere werden in Pferche getrieben, in einem ausge­klü­gelten System separiert, mit bloßen Händen an den Geweihen gepackt und durch lange Gänge in die eigenen Gehege geführt. Die Besitzerfamilien impfen die jungen Kälber dabei. Identifiziert wird jedes Tier blitz­schnell an seiner „Ohrenmarke“ – einfachen, geo­metri­schen Formen, die ins Ohr geritzt werden. Jede Familie oder Herde hat ihr eigenes Erkennungszeichen, das schon im Kindesalter verliehen wird und die Sámi mit Stolz erfüllt. Besitz ist in ihrer Kultur immer Sache der gesamten Familie.

 

Souveränes Handwerk
Neben der Rentierzucht pflegen die Sámi ihr Handwerk mit großer Hingabe. Wir treffen Kristine, die Schnabelschuhe herstellt. Die Rentierfelle werden dafür im Herbst zum Trocknen an die Hütten und Häuser genagelt, damit die Vögel die Fleischreste abpicken können. Gegerbt werden die Häute mit Birken­rinden und anderen Pflanzen. Kaum etwas hält die Füsse bei den eisigen Temperaturen von -40° so warm wie die spitz zulaufenden, handgenähten Schuhe, die am Schaft mit langen, bunten Woll­bändern stramm um die Waden gewickelt werden. Die Kofta, ihre Tracht aus schwerem Tuch und reich verzierten Borten, deren Muster und Farben Auskunft über die Familie und deren Herkunft geben, tragen die Sámi ebenso stolz wie den traditionellen Silberschmuck.

Geheime Gesänge
Lange war den Sámi das Joiken untersagt – Gesänge, die an unser Jodeln erinnern und zur Verständigung mit entfernten Nachbarn dienten. Wie die Ohrenzeichen sind auch sie personalisiert – meist bekommt man zur Geburt eine Joikzeile geschenkt, die im Lauf des Lebens erweitert wird. Verdächtig machte sich das Joiken vor allem, weil es, begleitet von Trommeln bei schamanischen Riten zum Einsatz kam. Im 17. Jahrhundert wurden die meisten Trommeln zerstört, die Schamanen verfolgt, ermordet und das Joiken unter Strafe gestellt.

Eine Geschichte der Unterdrückung
Seit der Jungsteinzeit ist Fennoskandinavien von Jägern und Sammlern besiedelt, die als Vorfahren der Sámi gelten. Den Beginn ihrer Kultur setzt man mit der Domestikation des Rentieres um 1800 v. Chr. an, urkundlich erwähnt werden die Sámi mit dem veralteten Wort lop (Lappe) erstmals um 1000 v. Chr. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Theorien über ihre Herkunft und warum sie sich so isoliert entwickelt haben. Seit dem Mittelalter wurden sie in ihrem Siedlungesgebiet zurückgedrängt, mit hohen Steuern belastet und ihre schamanisch geprägte Kultur religiösen Assimi­lierungen ausgesetzt. Im 17. Jahrhundert kolonialisierte Schweden die Gebiete – die Ureinwohner verarmten und Hungersnöte brachen aus. Verfol­gung, Repression und Rassengesetze erhärteten sich bis in die 1930 Jahre, wo sie in einem totalen Verbot der Kultur durch das NS-Regime gipfelten. Auch die Moderne veränderte das Leben der indigenen Bevölkerung drastisch und auf russischem Territorium wurde die nomadische Rentierzucht in Kolchosen und Zwangs­sied­lungen umgewandelt.

Neue Verbote
Aktuell stehen die Sámi erneut unter aufmerksamer Beobachtung der Regierung. Streitpunkt ist die Zahl der Rentiere, die von offizieller Seite als zu groß für das Weideland gesehen wird. Die Tiere könnten damit nicht artgerecht gehalten werden, was auf großes Unverständnis der Züchter stößt. Denn es ist die Industrie, die immer mehr Land fordert. Wehren können sich die Sámi dagegen nicht wirklich – sie besitzen das Land nicht, auch wenn sie es seit vielen Jahrhunderten beweiden. In einer Kultur, in der das Zählen der Tiere und das Sprechen über Besitz bis heute als Tabu gilt, bleibt diese Frage wohl noch länger unbeantwortet.

Behind the scenes

maria haas - projects - Die Sámi